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Das Blut der Meerjungfrau

Le sang de la sirène – ein bretonisches Märchen von der Insel Ouessant

In der überarbeiteten Erzählversion von Ursula Stroux mit Dank an Ondine Morin & Elisabeth Coutrot

Yon, ein stattlicher junger Mann, um dessen Hand so manche junge Frau angehalten hat – denn ja, auf Ouessant halten die jungen Frauen um die Hand des Mannes an und nicht umgekehrt! – lebte glücklich und zufrieden als Fischer in seinem kleinen Haus. Er lebte allein und liebte vor allem das Meer. Die Wellen und Strömungen, die Gischt und das Rauschen, das war seine große Liebe. So fuhr er jeden Tag aus und kam mit seinem Fang zurück. Er hatte genug, um davon zu leben, ohne sich beklagen zu müssen.

Eines Tages aber kam er in den Gewässern vor Cadoran in die Bucht der zwölf Seejungfrauen. Zwölf Schwestern, zwölf Morganed, wie sie im Bretonischen heißen, spielten dort und ließen sich von den Wellen treiben, wild und schön wie das Meer.

Die Jüngste sah Yon zuerst und verliebte sich sofort in diesen jungen Menschenmann. Schön war er. Und stark. Aber sie verliebte sich vor allem in seinen kühnen Blick, wie er da den Wellen trotzte in seinem kleinen Boot. Und was war es einfacher für eine Seejungfrau, als in sein Netz zu schwimmen und sich fangen zu lassen? Yon holte sein Netz ein und als er statt eines satten Fanges in die schönen Augen der Morganed blickte, staunte er nicht schlecht. Sie stützte sich mit ihren Armen auf die Reling, blickte ihm tief in die Augen und sprach: „Nimm mich mit und heirate mich. Dann bin ich deine Frau und du wirst Herrscher des Meeres. Du wirst über alle Strömungen und Winde bestimmen.“

Yon zögerte. Er hatte schon viele Geschichten von Morganed und Menschen gehört und keine davon ist gut ausgegangen, aber … Aber wenn ein Mann in die Augen einer Meerjungfrau schaut, kann er einfach nicht widerstehen. So hob er sie auf sein Schiff.

Yon steuerte sein Boot an die Anlegestelle, hob die Morganed in seine starken Arme und trug sie an Land. Und siehe da, mit jedem Schritt, den er an Land ging, wandelte sich ihr Fischschwanz in wunderschöne, lange Frauenbeine. Beim Haus angekommen, war der Fischschwanz verschwunden und sie lief grazil neben ihm ins Haus.

Die Befürchtungen Yons bestätigten sich nicht. Ganz im Gegenteil; die beiden liebten sich innig und Yon kannte nun neben der Liebe zum Meer auch die Liebe zu seiner liebreizenden Morganed. Wie sie gesagt hatte, herrschte er über Winde und Strömungen und machte fortan so fantastische Fänge von den seltensten Fischen und Krustentieren, dass sie sehr gut davon leben konnten.

Während Yon am Tage unterwegs war, ging die Morganed zu der Bucht, in der ihre Schwestern schon warteten. Sie verwandelte sich zurück in eine Morganed und spielte und tobte wild und frei mit ihren Schwestern in den Wellen. Abends war sie wieder im Haus und Yon eine gute Ehefrau. Schon bald gebar sie eine Tochter, hübsch, wie sie selbst.

So könnte diese Geschichte hier enden und alles wäre gut. Nur leider endet sie nicht hier.

Yon gefiel es nicht, dass seine Frau tagsüber mit ihren Schwestern spielte. Er wollte sie ganz haben, nicht nur die halbe Zeit. Eines Abends saß er missmutig am Tisch und sagte: „Morgen gehst du nicht zu deinen Schwestern. Ich möchte, dass du morgen hier bleibst.“ Da erschrak die Morganed. „Liebster, bitte, verlange nicht so etwas. Ich muss des Tags zu meinen Schwestern und ins Meer. Ich bin eine Morganed. Das weißt du doch.“ Aber Yon blieb dabei: „Wenn du morgen zu deinen Schwestern gehst, liebst du mich nicht. Dann liebst du deine Schwestern mehr als mich und das ist mir nicht genug. Geh nicht, sonst ist es aus und vorbei.“ „Yon, ich flehe dich an – du bringst großes Unglück über uns und folgende Generationen, wenn du so sprichst. Bitte, bitte, lass mich meine Schwestern besuchen. Ich bin eine Morganed, das ist meine Natur.“ Aber ach, sie sah in seinen Augen, dass es vergeblich war. Yon saß mit gekreuzten Armen und steinernem Blick da und blieb verbissen bei seiner Meinung.

Da weinte sie und packte am nächsten Morgen ihr Bündel, denn bleiben konnte sie nicht mehr. Als Yon zur See fuhr, ging sie zu ihren Schwestern und klagte ihr Leid. Untröstlich war sie, dass Yon sie nicht mehr liebte; ja, verschmähte, was sie war: eine Morganed.

Ihre Schwestern aber tobten vor Zorn. Das ganze Meer schäumte von ihrer Wut und sie schmiedeten ihren Racheplan. Sie näherten sich dem Schiff von Yon und brachten das Meer zum Schäumen. Yon, der nun nicht mehr über das Meer befehligte, mag seinen Fehler erkannt haben, aber zu spät – eine Welle ergriff das Boot und verschlang es mitsamt seinem Fischer. Auf den Meeresboden zogen sie ihn, die elf Schwestern.

Yon starb am Meeresgrund und was aus der jüngsten Morganed und ihrer Tochter wurde, berichtete die junge Ouessantinerin Anatole le Braz, dem Märchensammler, nicht. Aber sie fügte hinzu: „Seit diesem Tag gibt es in jeder Generation eine junge Frau hier auf Ouessant, die so schön wie eine Morganed ist. Die Menschen bewundern ihre Schönheit, aber bedauern ihr Schicksal. Denn eines Tages, wenn ihr Glück gerade am größten ist – vielleicht ist sie frisch verheiratet, vielleicht hat sie gerade ihr erstes Kind bekommen – da wird der Fluch der Schwestern über sie kommen. Sie wird ihren Liebsten bei Windstille und Sonnenschein verabschieden, das Meer ist ruhig, nichts kündigt Unheil an. Sie wartet am Abend auf seine Heimkehr. Und wartet und wartet. Es wird Nacht und sie eilt zu den Felsen. Sie ruft seinen Namen in den Wind, aber es antworten nur die Wellen. Und dann hört sie von weit aus der Ferne das Geheul und Gelächter der elf Schwestern. Und die junge Frau weiß: sie trägt das Blut der Meerjungfrau in sich; den Fluch der elf Schwestern, der ihren Liebsten getroffen hat.

Deshalb gibt es auf Ouessant mehr Witwen als sonstwo in der Bretagne.


Ein nicht ganz so dramatisches Ende mit Augenzwinkern

Eigene Version inspiriert von Frau Wolle/Karin Tscholl (c/o Ursula Stroux)

Der Anfang ist gleich, bis Yon unerbittlich wird…

Als Yon zur See fuhr, ging sie zu ihren Schwestern und klagte ihr Leid. Untröstlich war sie, dass Yon sie nicht mehr liebte; ja, verschmähte, was sie war: eine Morganed. Aber nach einigen Wochen beruhigte sich ihr Herz und sie war wieder ganz Morganed – wild und frei – und spielte mit ihren Schwestern und ihrer Tochter in den wilden Gewässern vor Ouessant.

Yon hingegen war nun nicht mehr Herrscher über Wind und Wellen; ganz im Gegenteil: kein einziger Fisch wollte sich mehr in sein Netz verirren und auch seine Fangkörbe für Krabben und Hummer bleiben leer. So blieb ihm nichts anderes übrig. Wollte er einen Bissen Brot zwischen die Zähne haben, musste er die erfolglose Fischerei aufgeben, seine geliebte Insel verlassen und in Brest in einer der großen Fischfabriken seinen Unterhalt verdienen.

Nun hatte eine Nachbarin der beiden die Geschichte aus der Ferne beobachtet. Ihr Mann war über die Jahre immer mehr mit Bier und Chouchen verheiratet, denn mit ihr und nicht selten rutschte ihm die Hand aus. Als diese Nachbarin nun sah, wie die Morganed ein wildes und freies Seejungfrauen-Leben führte, kam ihr eine Idee. Eines Tages ging sie an der Bucht der zwölf Schwestern vorbei und rief ihre ehemalige Nachbarin: „Ei sag, kann ich nicht auch in eure Schwesternschaft eintreten. Mein Mann liebt schon lange Bier und Chouchen mehr als mich.“

Die Morganed sah sie voller Mitgefühl an. „Warte, ich frage meine Schwestern.“ Nach einiger Zeit kam sie mit einem verschmitzten Lächeln auf ihren schönen Lippen wieder. „Zu einer Morganed können wir dich nicht machen, aber sei unser Gast, so oft und so lange du möchtest!“ Das ließ sich die Frau nicht zweimal sagen. Sie jagte ihren Mann zur Tür hinaus und lebte von nun an ein freies Leben ohne Angst.

Nun hatte eine andere Ouessantinerin von der anderen Seite der Insel bemerkt, wie ihre alte Schulfreundin auf einmal viel freudiger und leichter sonntags zum Gottesdienst kam. Ihre Neugierde trieb sie an und als sie den Grund herausfand, überlegte sie nicht zweimal. Auch sie wurde in die Gemeinschaft der Schwestern aufgenommen, so weit dies eben möglich war.

Und so kam eine dritte und eine vierte hinzu.

Die Männer auf Ouessant sind aber auch nicht auf den Kopf gefallen. Natürlich hatten sie bemerkt, was da vor sich ging und weil die meisten unter ihnen ihre Frau wirklich von Herzen liebten, gaben sie sich noch mehr Mühe als vorher.

Deshalb gibt es auf Ouessant mehr glückliche Paare als sonstwo in der Bretagne.


Wer mehr Märchen und Geschichten von Ouessant hören möchte, ist herzlich eingeladen, bei meinen Bretagne-Reisen „Windsbraut“ und „Kreative Auszeit“ dabei zu sein oder aber unter Kalon Eusa eine Märchenwanderung mit Ondine Morin, der Geschichten-Erzählerin der Insel, zu buchen.